Weihnachten auf dem Friedhof feiern wir mit den Toten

Es ist Weihnachten. Fast Mitternacht. Wir stehen auf dem Friedhof. Jedes Jahr sind wir hier, an den Gräbern unserer Verstorbenen und feiern mit ihnen. Dieser Artikel ist mein Beitrag zur Novemberaktion „Ich habe mit den Toten getanzt“ von Petra Schuseil und Annegret Zander im Totenhemd-Blog

Trauer und Tod gehören zum Leben und nur wer den Verlust, den Schmerz und die tiefe Dunkelheit kennt, weiß die Freude, das Lachen und das Licht umso mehr zu schätzen. Für diesen Artikel bin ich nochmal zurückgegangen in eine Zeit tiefster Finsternis, die damit endet, dass man doch mit den Toten tanzen kann.

Aus meinem Trauer-Tagebuch

(leicht zensiert)

Das Telefon klingelt.
Erwartet. Befürchtet.
Unheil verkündend.
Der Klang der Totenglocke.

Die Sonne geht auf.
Goldgelbe Wärme.
In mir Eiseskälte.
Vögel zwitschern.
In mir ist alles stumm.
Blauer Himmel.
In mir tiefdunkle Nacht.
Totenschwärze.

Wir wußten es.
Alle.
Konnten uns darauf vorbereiten.
Leicht gesagt.
Maximal 1 Jahr, hieß es.
Hoffnungslos.

Ein Blatt fiel vom Baum.
Einfach so. Ganz leise.
Die Welt dreht sich weiter.
Nur in uns ist alles erstarrt.
Totenstille.

Der Mann,
der Vater,
der Opili
ist tot.

Wir sollen fröhlich und getröstet sein

Es ist ein Sonntag im Februar. Alle Brüder und Schwestern reisen an. Geteiltes Leid ist halbes Leid. Zusammen wird sich erinnert und gelacht. Ein Raum voller Leben.

Der nächste Morgen. Ein Blumenstrauß steht vor der Haustür. Tulpen in bunten Farben strahlen mir entgegen. Ein Strauß voller Leben.

Die Pfarrerin kommt: „Ihr sollt fröhlich und getröstet sein, hat sich dein Mann, euer Vater gewünscht. Das soll ich euch als Erstes sagen.“ Worte voller Leben.

Und es soll eine Trauerfeier sein, nach der die Menschen getröstet heim gehen. Keine Reden und keine Lieder in Moll sondern Freude und Zuversicht sollen im Mittelpunkt stehen. Ein Wunsch des Verstorbenen, der die Pfarrerin viel Kraft kostet, auch wegen der persönlichen Nähe zu uns. Und sie findet Worte voller Trost.

Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist mit uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.
(Dietrich Bonhoeffer)

Rote Schals und bunte Blütenpracht

Und wir tragen rote Schals sowie Krawatten bei der Beerdigung. Und wir lachen herzlich über Episoden und Lebensgeschichten beim „Leichenschmaus“, der abends in einem fröhlichen Familienfest mit noch mehr Erzählungen endet. Und weil es soviel zu erinnern gibt, bleiben die Angehörigen einen Tag länger.

Und es gibt noch mehr Blumensträuße, die persönlich vorbei gebracht oder geschickt werden. Ihre Farbenpracht erfreut unsere Augen und die Anteilnahme wärmt unsere Herzen. Ein wahres Blütenmeer breitet sich über das Wohnzimmer aus. Ein ganzes Jahr lang trudeln in Abständen Blumensträuße mit aufmunternden Worten ein. Aufmerksamkeiten, die uns wie ein warmer Mantel umhüllen und der Seele gut tun.

Sprich mit mir, damit ich in deinem Herzen lebendig bleibe

Und die Sträuße stehen in der kleinen Gedenkecke neben dem Bild meines Mannes. Dazu kommen ein paar kleine Herzensdinge wie das Holzkreuz, welches wir aus Oberammergau von den Passionsspielen mitgebracht haben. Es ist ein Ort, um mit dem Verstorbenen zu reden, mit ihm in einen Dialog zu treten, ihm Fragen zu stellen. Nach einem Jahr hängen wir das Bild zur Ahnengalerie. Er ist immer noch bei uns, nur anders, hat seinen Platz in unseren Herzen.

Ich bin ich, ihr seid ihr.
Das, was ich für euch war, bin ich immer noch.
Gebt mir den Namen, den ihr mir immer gegeben habt.
Sprecht mit mir, wie ihr es immer getan habt.
(Henry Scott Holland, 1847-1918)

Und wir feiern. Es hätte meinem Mann, dessen Herzenssache es war, sich mit Menschen zu umgeben und mit ihnen zu sprechen, sehr gut gefallen: Geburtstage, Hochzeiten, ohne besondere Anlässe, einfach so, damit man nicht nur aus traurigem Anlass zusammen findet.

Weihnachten auf dem Friedhof – ein Fest der Freude mit den Toten

Und dann ist Weihnachten und im liebevollen Miteinander und Gedenken kommt keine Traurigkeit auf. Und am 1. Weihnachtsfeiertag, als der traditionelle Braten verspeist und der Birnenschnaps als Verdauungstrunk auf dem Tisch steht, hat jemand, wer auch immer es war, die Idee, dass der liebe Helmut, mein verstorbener Mann, sicherlich gerne mittrinken würde.

Es ist fast Mitternacht und stockfinster, als wir den Friedhof erreichen. 15 Menschen versammeln sich um das Grab, füllen ihre Gläser und gießen einen besonders großen Schluck Birnenschnaps auf den Erdhügel. Dann prosten wir uns zu, scherzen, lachen und singen, was wir immer gemeinsam gesungen haben: Dona nobis pacem.

Und damit unsere anderen Verstorbenen nicht neidisch werden, gehen wir von Grab zu Grab und singen die Lieblingslieder der Verstorbenen. Singend geht es zurück nach Hause und endet dort mit einer Mitternachtsdisco und Tanz, nun bereits zum 6. Mal. Etwas Neues hat in 2011 seinen Anfang genommen. Und es ist fühlt sich gut an.

Die Erde ist deine Mutter, sie umfängt dich.
Der Himmel ist dein Vater, er beschützt dich.
Regenbogen ist deine Schwester, sie liebt dich.
Die Winde sind deine Brüder, sie singen für dich.
(Indianisches Wiegenlied)

Die Meinungen über dieses seltsame nächtliche Verhalten zu Weihnachten gehen auseinander. Wir alle haben auf jeden Fall viel Spaß dabei. Dass Andere befremdet und irritiert reagieren, können wir leider nicht ändern und wollen es auch gar nicht.

Und oben im Himmel wird getanzt und gelacht

Und Helmut, mein Mann, der Verstorbene? Ich bin sicher, er sitzt oben im Himmel und es gefällt ihm, dass er mitfeiern darf und nicht in Vergessenheit geraten ist. Dort hat er sicher längst mehrere Fördervereine gegründet, spielt in der Himmels-Theatergruppe mit, ist ständig unterwegs, viel beschäftigt und redet mit den Menschen, die ihm inzwischen gefolgt sind und kümmert sich um sie.

Und wenn er von oben auf uns hier unten schaut, freut er sich, dass sein Wunsch in Erfüllung gegangen ist, dass wir getröstet und fröhlich sind.

Aus dem Verlust, der Trauer und dem Schmerz sind meine „Perlen der Lebensfreude“ entstanden. Jedes Jahr gibt es nur eine Einzige.

Lass uns zusammen Leben – Lieben – Lachen,
traurig und fröhlich sein
und bunte Sachen machen

Deine Elvira

PS: Und am Todestag? Da sitzen wir gemeinsam um eine große dampfende Schüssel mit Spaghetti Bolognese, dem Lieblingsessen meines Mannes. Wir erzählen und lachen, besuchen ihn auf dem Friedhof und singen. Nur tanzen tun wir bisher nicht. Warum eigentlich nicht?

12 Kommentare, sei der nächste!

  1. Liebe Elvira,

    es ist schön von Menschen zu lesen, die wohl ähnlich denken. Danke für diesen Blog.

    Meine Lebensgefährtin Ulla ist im April 2021 verstorben.
    Das erste Weihnachten ohne Sie. Was mache ich? Ich werde wohl am 24. um 17:00 Uhr zu Ihrer Baumbestattung gehen und mit Ihr das Weihnachtsfest beginnen. Wird einsam werden, heisst es doch: Tote soll man ruhen lassen. Es wird keiner da sein, Ihr zu gedenken. Kinder hatten wir nicht.
    Bei mir zu Hause gibts Gans, Rotkohl und Klöße und süßen Wein.
    Morgen ist Sie ein halbes Jahr verstorben, meine Maus.
    Ich wünsche allen, die hier dies lesen eine gute Zeit und Danke.
    Uwe

  2. Liebe Elvira,
    danke für deinen Beitrag hier. Das war sicherlich nicht einfach. Wird jedoch auch anderen Menschen in ihren besonders schweren Schicksalstagen hilfreich sein.
    Adventliche Grüße in 2017
    Geertje

    1. Liebe Geertje,
      ich hoffe sehr, dass es anderen hilfreich sein kann, deshalb habe ich mich getraut, Teile meines Trauer-Tagebuchs zu veröffentlichen.

      Vielen Dank für deine lieben Grüße
      Elvira

  3. Liebe Elvira,
    ein wunderschöner Beitrag. Als ich vor vielen Jahren einen guten Freund urplötzlich verllor (an einem 25.12. ….) war es Tequila – den er immer getrunken hatte, den wir ihm auf das Grab spendierten …. Und den Tag vor der Beerdigung haben wir spontan gemeinsam in der „Lieblingspinte“ verbracht, die, die gern mit ihm waren – ungeplant lange, so dass wir mit einem ordentlichen Kater in der Kapelle saßen – fast auf direktem Wege. Es war verrückt, seine Frau jedoch sagte: „Das hätte ihm sehr gefallen ….“.
    Ich weiß, was Du meinst und sagen willst und Du hast Recht ….. Nur planen kann man es nicht – es muss passieren und man muss es passieren lassen.

    Eine schöne Adventszeit für alle, die wir lieben – wo auch immer sie sich aufhalten – wir haben sie im Herzen …..

    Eine schöne Adventszeit auch für Dich!

    Herzlichst Betty

  4. Liebe Elvira Loeber, was für ein schönes Ritual ist da gewachsen aus dem Schmerz! Wunderwunderschön 🙂 für so viele Menschen ist gerade das Weihnachtsfest nach dem Tod eines geliebten Menschen ein eher trauriges Fest, eins, wo man sich am liebsten verkriechen möchte bis es vorbei ist. Ihr Beispiel zeigt, dass es auch anders geht und dass Trauer auch Leichtigkeit und Lebensfreude enthalten darf.
    Wie schön, dass ich durch den Totenhemd-Blog auf Sie gestoßen bin …
    Herzlichst
    Christine Kempkes

    1. Danke, liebe Frau Kempkes für Ihre Worte. Es gab auch viel Beistand in dieser Zeit, den ich dankend angenommen habe. Meine Gemeindepfarrerin nannte es in einem Gespräch – aktives Trauern. Wenn man darauf eingehen kann, tut es sehr gut.

      Ganz herzliche Grüße
      Elvira Löber

  5. Liebe Elvira, so schön!
    Da kullern mir vor Freude und Berührt-sein die Tränen … gut macht Ihr das!!
    Ich freue mich mit Dir / Euch wie Ihr Euch erinnert und gemeinsam kocht und Euer Weihnachten zelebriert.

    Danke dass Du uns daran teilnehmen lässt.
    Herzlich. Petra

    1. Eure Blogaktion hat mir diese Familientradition einmal ganz bewusst vor Augen geführt. Das gemeinschaftliche Weihnachtsessen war mal eine spontane Idee. Nun sind daraus bereits 32 Jahre geworden. Es begleitet die Entwicklung einer Familie: das Sterben aber auch die Ankunft kleiner Menschen im Leben.

      Ich habe gern an Eurer Blogaktion teilgenommen, auch wenn es erst einmal Überwindung kostete.

      Liebe Grüße
      Elvira

    1. Ja, lieber Christian, das ist gut, sehr gut sogar. Ich hoffe jedoch für alle Trauernden, dass sie sich nicht verschließen und in ihrem Schmerz stecken bleiben, dass sie Hilfe annehmen, ihre Türen öffnen und das Beste für sich heraussuchen.

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