Eine Winterreise nach Sellin

Sellin, mon amour und die Schrecken des Alterns

Es stand seit Jahren auf meiner Wunschliste: Sellin im Winter erleben. Gleich am zweiten Tag des neuen Jahres habe ich es wahr gemacht und war für eine Woche mit dem Lebensgefährten auf meiner Sehnsuchtsinsel.

Auszeit: Zeit zum Nachdenken

Mit Abstand zu meinem normalen Alltag wollte ich klären, wohin mich mein Lebensweg führen soll nachdem ich das 6. Lebensjahrzehnt überschritten hatte. Außerdem schwirrten mir viele Ideen im Kopf herum, ergänzt durch Berge von Notizen, die die Septemberfrau betreffen.

Kurz, ich brauchte mal Zeit zum Sortieren, zum Setzen neuer Ziele und zum Planen. Welche Wünsche habe ich an die Zukunft unter Berücksichtigung der Erfahrungen aus der Vergangenheit und dem Sein in der Gegenwart. Lange Spaziergänge und die Kraft der Rauhnächte sollten diese Zeit mit mir selbst unterstützen.

Sellin, wo meine Sehnsucht wohnt

Immer wieder zieht es mich nach Sellin, dem traumhaften Ort mit seiner Himmelsleiter, der Seebrücke sowie der von Prachtvillen im Bäderstil gesäumten Wilhelmsstraße. Obwohl es stürmte wollte ich sofort nach der Ankunft an den Strand. Dort empfingen mich orkanartige Böen. Der Wind peitschte die Wellen auf den Sand und erst an den Steinen der Promenade zerbarsten sie mit lauten Knall. Atemlos saugte ich dieses Naturschauspiel in mich auf als Ersatz für den Strandspaziergang, der bei diesem Wetter ausfallen musste.

Die Seebrücke in Sellin
Blick auf die berühmte Seebrücke von Sellin

Morgens auf der Himmelsleiter

Trotz bitterer Kälte starte ich an der Seebrücke in den Tag. Dort, wo sich Himmel und Erde vereinen, sich das Rosarot des frühen Morgens in der Ostsee spiegelt und die Wellen leise murmeln ist der schönste Platz für meine Qigong-Übungen. Danach laufe ich am Strand entlang und tauche die Füße kurz in das eiskalte Wasser. Das macht putzmunter, fröhlich und kurbelt den Kreislauf an.

Sellin
Sellin – am Hauptstrand am frühen Morgen

Der Friedensberg – seit ewigen Zeiten Kraftort und Heiligtum

Zum morgendlichen Ritual gehört auch der Gang über den Friedensberg, diesem uralten Heiligtum gleich gegenüber der Kurverwaltung. Auch im Winter liegt ein ganz besonderer Zauber über diesen Ort, der mich wieder magisch anzieht. In meiner Erinnerung fest verankert ist die Eiche, die dort allein zwischen Buchen steht und von diesen bedrängt wurde. Mein damals todkranker Mann hat sie als „seinen Baum“ ausgewählt. Ich suche die alte knorrige Eiche, was schwierig ist, da die Bäume keine Blätter haben. Dort, das könnte sie sein. Ich streichele ihre tief gefurchte, rauhe Borke, dem Unterscheidungsmerkmal zu den Buchen mit ihren glatten Rinden.

Vergeblich suche ich allerdings nach „Ratatösskr“, dem Eichhörnchen, dem Vermittler zwischen Himmel und Erde, welches inzwischen zu meinem persönlichen Krafttier geworden ist und mir zu besonderen Situationen immer wieder über den Weg läuft. Die ehemaligen Bezeichnungen wurden anscheinend bei der Neugestaltung des Platzes ersetzt. Auf Schildern steht jetzt u.a. Schönheit, Loslassen, Prüfung, Familie, Einklang, Orakel oder am Ende der Reise sein Inneres: Weisheit. Irgendwie schade, trotz allem hat dieser Ort nichts von seiner Energie und mystischen Ausstrahlung verloren, wenn man sich auf ihn einlässt.

Sellin, der Friedensberg
Der lange Weg nach innen zur Mitte und Weisheit

Die Schrecken des Alters

Nach einem ausgiebigen Frühstück in der wunderschönen gemütlichen Ferienwohnung beschäftigt mich das älter werden, denn schließlich habe ich die 60 inzwischen überschritten mit teilweise komischen Gefühlen. Meine Notizzettel füllen sich, wachsen zu einem kleinen Berg, und es ist kein Ende in Sicht. Hier möchte ich meine Geistesblitze mit euch teilen:

  • Die alte Gesellschaft – nicht nur in Deutschland sondern weltweit gibt es immer mehr ältere Menschen.
  • Wie anders leben wir im Vergleich zu der Generation vor uns.
  • Erinnerungen an meine Ahninnen tauchen auf und Neugier, wer waren sie?
  • Biographiearbeit, Erkundung: Gibt es einen roten Faden im meinem Leben?
  • Schau zurück und nach vorn: Wurzeln, Familie, Weggefährten, Energieräuber, die glorreichen 7, Lebensreise/Panorama/Teppich.
  • Stichwort: Kriegsenkel. Ich habe unzählige Bücher darüber gelesen und die Thematik beschäftigt mich noch immer.
  • Freude – wir werden immer älter.
  • Fragen – was tun mit diesen gewonnenen Jahren? Was will ich?
  • Zeit haben für mich und meine Wünsche, Träume kennen kein Alter. Darf ich noch Ziele haben und wenn ja, wozu? Lohnt sich das noch? Die Sehnsuchtsliste wieder aktualisieren.
  • 55+ und arbeitslos, was nun? Die neuen Gründer und Experten. Gibt es sie überhaupt? Wer sind sie? Wo verstecken sie sich? Wie sind ihre Erfahrungen?
  • Weg vom Jugendwahn und in Würde altern. Das Geschenk von mehr Lebenszeit annehmen.
  • Generationenkonflikte: Eltern mit Kindern sind jetzt Großeltern mit Enkeln. Das Miteinander über die Generationen hinweg oder die Vernetzung und das Zusammenleben von jung und alt.
  • Frauen zwischen allen Stühlen, zerrieben zwischen Enkel und Eltern (Sandwichposition).
  • Befürchtungen, was die Gesundheit betrifft. Wie wirkt sich die gestiegene Lebenserwartung darauf aus? Was ist, wenn ich pflegebedürftig werde? Die Schreckgespenster Pflegebedürftigkeit, Alzheimer, Demenz tauchen auf.
  • Wie und wo will ich wohnen? Welche Wohnformen gibt es? Welche neuen Möglichkeiten des Zusammenlebens?
  • Wenn ich in Rente gehe, dann . . . Unterschiedliche Lebensstile und Vorstellungen.
  • Die Altersarmut treibt mich um, denn sie betrifft vor allem Frauen. Wie sehr schränkt Geldmangel ein? Entsteht daraus zwangsläufig ein sozialer Mangel und der Rückzug in die Einsamkeit?
  • Unsichtbar und zurückgezogen, ist das der neue Minimalismus der Älteren.
  • Ist „wesentlich werden“ gleichbedeutend mit Verlust oder kann es auch zu einem reicheren Leben führen?
  • Einsamkeit, Alleinsein, Trauer, graue Tage
  • Vererben oder alles Geld selbst ausgeben?
  • Verfügungen im Fall von Krankheit und Pflege sowie die Frage „Wie will ich sterben und wer zahlt das alles?“
  • Späte Erkenntnisse, dass wir, diese Nachkriegsgeneration nicht gerade pfleglich mit unserem blauen Planeten umgegangen sind. Ein ganzer Berg angefangen bei Zerstörung der Natur, Klimaveränderungen, Kauf- und Essgewohnheiten, nachhaltigem Leben, Ökologie türmt sich da auf. Besser noch im Alter als nie nachholen, was wir versäumt haben. Junge Menschen machen sich auf, ihre Welt zu verbessern. Unterstützen wir sie dabei! Was kann ich noch tun?
  • Schlaflos und nun?
  • Gibt es eine Weisheit des Alters? Wann gilt man als weise? Wie oder woran merke ich das?

Eine Auszeit, welche keine Antworten liefert sondern viele Fragen aufwirft. Alle Ängste und Zweifel, Kummer und Sorgen liste ich sorgfältig auf, daneben stehen bereits gefundene Lösungen oder die Ergebnisse eigener Experimente. Zudem gibt es Notizen, was ich bereits weiß, was ich noch ausprobieren und unternehmen will oder wo ich Anregungen bzw. den Rat von Spezialisten brauche.

Wanderungen in und um Sellin

Der Wind und die Kälte bei langen Wanderungen bewahren meinen Kopf davor, durch die Fülle an Gedanken zu platzen. Zum Glück liegen die schönsten Wege gleich vor der Tür. Also, einfach raus und loslaufen.

Geheimnisvoll leuchtet der Selliner See im Nachmittagslicht. Drohend ragt die Steilküste entlang des Strandes auf dem Weg nach Baabe neben mir auf. Abgerutschte Hänge und Bäume sind Zeugnisse, welche Zerstörungskräfte hier am Werk sind.

Magisch: der Selliner See
Geheimnisvoll leuchtet der Selliner See im Nachmittagslicht

Viele Wanderwege führen durch die Buchenwälder der Granitz. Der Hochuferweg ist über die Treppen am Kurparkhotel erreichbar und schenkt viele interessante Ausblicke auf die Ostsee. Eigentlich handelt es sich um einen Rundweg, der über den Steinstrand wieder zur Seebrücke führt, doch der Winter und die Stürme machten daraus einen Hin- und Rückweg.

Schnell, viel zu schnell war diese Auszeit zu Ende. Inzwischen sind alle Notizen sortiert, doch es fehlt mir schwer, mich zu entscheiden, mit welchem Thema ich beginnen soll, da ich alle gleichermaßen wichtig finde. Deshalb meine Bitte: „Was interessiert dich besonders. Hast du Fragen, die oben in der Liste noch fehlen? Welche Herausforderungen brennen dir auf der Seele?“ Bitte hilf mir mit einem Kommentar, den Anfang zu finden. Ganz herzlichen Dank dafür.

Lass uns zusammen Leben – Lieben – Lachen
und bunte Sachen machen

Deine Elvira

Sellin
Eine Auszeit in Sellin wirft viele Fragen über das Altern auf

3 Kommentare, sei der nächste!

  1. Liebe Elvira, es hätte mich gereizt, zu jeder Deiner Fragen einen Kommentar von mir zu geben oder zu schreiben.
    Alles Themen, die mich in meinen 80 Jahren begleitet haben .Es war schön, Deine Fragen „Revue“ zu betrachten, die ja alle einmal M e i n e waren.
    Eines wirst Du noch erleben: mit dem „Älterwerden“ spielt die Vergangenheit eine immer größer werdende Rolle.
    So kommt man mit Freunden in der Gesellschaft in nicht endende Berichte über markante Erlebnisse in seinem Leben .
    Darüber hinaus habe ich erfolgreich geforscht über meine Vorfahren. Diese gehen bis anno 1723 zurück mit vielen Details . Interessant !!
    danke für Deinen Beitrag

  2. Liebe Elvira,
    ein wunderbarer Beitrag und schön, dass du dir wieder einen Wunsch von deiner Löffelliste erfüllt hast. Ich bin gerade an einem Beitrag, bei dem geht es auch um meine Wünsche der besagten Liste, die ich mir in 2018 erfüllt habe. Das heißt jetzt aber nicht abgehackt, denn einiges kann immer wieder in Angriff genommen werden.

    Da hast du dir ja ein paar schwierige Fragen und Themen mit nach Sellin genommen. In allen finde ich mich wieder. Das alles zu überdenken, ist schwere Kost. Aber alles ist wichtig. Nur, wenn man dies so als geballte Ladung auf einem Haufen sieht, dann kann einem schon Angst und Bange werden. Nicht, dass ich die Themen so vor mir her schiebe, aber immer alles hübsch der Reihe nach. Was mir jetzt ganz wichtig erscheint, ist eine Vorsorgevollmacht. Auch so etwas, was von meinem Mann und mir immer weggeschoben wurde. Da führt jetzt aber kein Weg mehr herum.

    Was ich wahnsinnig interessant finde, einen Stammbaum zu erstellen. Ich habe nach dem Tod meiner Eltern so viele Unterlagen und persönliche Schriftstücke gefunden, das kommt noch auf meine Löffelliste.

    Liebe Grüße
    Gudrun

  3. Hallo Elvira, fast alle dieser Fragen habe ich mir auch gestellt und teilweise darüber geschrieben. Ich möchte Dir keinen Tipp geben, was mich besonders interessiert, denn alles ist wichtig und spielt für Frauen unseres Alters eine Rolle. Zusätzlich möchte ich gerne lesen, wie Du die Themen aus Deiner Sicht behandelst und freue mich darauf. Geh einfach nach und nach alles an.
    Ganz, ganz liebe Grüße
    Karin

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