Zeit zerfließt, verrinnt, eilt dahin, steht nie still. Zeit ist ein seltsames Gebilde. Existiert sie überhaupt, diese Zeit? Ich kann sie nicht sehen, nicht hören oder greifen und trotzdem ist sie ständig präsent. Sie sagt mir, ob ich mein Leben optimal im Griff habe, wacht über meinen ganz normalen Alltag und Lebensrhythmus, gibt mir den Takt vor bei der Arbeit und erinnert mich neuerdings auf der Schwelle zu 60 Jahren an meine Vergänglichkeit. (Das verführt mich, mehr zu rennen, zu hetzen, zu eilen, um die verbleibende Zeit mit allen möglichen Kram vollzustopfen, damit keine Minute vergeudet wird.)
Die Götter der Zeit
Chronos – versinnbildlicht in der griechischen Mythologie den Ablauf der Zeit. Sein Name spiegelt sich in unserem Wortgebrauch wieder. Wenn wir eine Chronik betrachten, erfahren wir dort alles, was sich im Laufe der Zeit zugetragen hat. Eine chronologische Auflistung erfasst die Reihenfolge der Ereignisse oder Erinnerungen, sortiert nach Datum. Diese Zeit läuft ruhig und gleichmäßig ab: Sekunden reihen sich an Minuten, die werden zu Stunden, Tage, Monaten, Jahre.
Künstlerisch wird der Gott Chronos dargestellt als Greis mit Flügeln und einer Sichel sowie ab dem 14. Jahrhundert mit einem Stundenglas. Er ist das Sinnbild für den Beginn, das kontinuierliche Dahinfließen und Ende unserer Lebenszeit.
Einschnitte in diesen immer gleichmäßigen, vorhersehbaren Ablauf kommen durch Kairos, der den richtigen Zeitpunkt symbolisiert. Kairos steht für Aktivität und Veränderung. Er sorgt für die Würze im Leben, indem er uns auf Messers Schneide wandeln lässt und mit einem Jetzt oder Nie zu mutigen Entscheidung auffordert. Er will, dass wir ins Handeln kommen und Verantwortung übernehmen. Auf Bildern wird er mit einer langen Stirnlocke dargestellt, damit wir im wahrsten Sinn des Wortes, sich einmalig bietende Gelegenheiten beim Schopf ergreifen können. Ist er mit seinen Flügelchen jedoch vorbeigeschwirrt, kann ihn am kahlen Hinterkopf niemand mehr erwischen. Die Chance entgleitet unseren Hände, ist vorüber, vertan.
Mitten in der Zeit
Neulich war ich im Deutschen Uhrenmuseum in Furtwangen. Eigentlich wollte ich mir die Zeit nicht nehmen, doch es regnete, also hinein. In unzähligen Varianten wurde mir da die Zeit vor Augen geführt – von ihren Anfängen bis heute.
Die ersten Menschen richteten sich nach Helligkeit und Dunkelheit. Die Schöpfungsgeschichte beschreibt diesen Vorgang als Trennung von Licht und Finsternis, woraus der erste Tag entstand.
Als in der Steinzeit die ersten Menschen sesshaft wurden, verknüpften sie ihre Tage mit Himmelserscheinungen oder Vorgängen in der Natur, um eine langfristige Struktur zu erhalten. Daraus entwickelte sich langsam ein Jahreszeitenkalender.
In der Antike entwickelten Astronomen Sonnenuhren. Die älteste bekannte ist der Gnomon, ein senkrechter Stab, der den Verlauf des Schattens anzeigt, mit dessen Hilfe der Tag genauer eingeteilt werden konnte. Auch Obelisken erfüllten diesen Anspruch.
Später verlegte man diese Sonnenuhren an eine nach Süden ausgerichtete Wand. Die im Halbkreis ausgerichteten zwölf „horen“ dauerten je nach Jahreszeit unterschiedlich lang, doch die Zählung der Stunden begann wie immer zum Sonnenaufgang.
Erste mechanische Uhren wurden an Türmen montiert und die Bewohner eines Ortes orientierten sich an deren Glockenschlag, so wie es heute noch jüngere Kinder tun, die die Uhr nicht lesen können.
Die Entwicklung schreitet fort bis bei den neuzeitlichen Uhren die Stunden ins Spiel kommen, welche unabhängig vom Sonnenstand oder den Jahreszeiten funktionieren. Der Tagesablauf konnte nun auf die Bedürfnisse von Kaufleuten und Handwerkern abgestimmt werden. Die Uhr bestimmte, wann die Arbeit begann und endete.
Üppig verzierte Uhren dienten im 16./17. Jahrhundert weniger als Zeitmesser sondern der Zurschaustellung von Macht und Reichtum. Sie waren ein kostbarer Besitz und dienten der Repräsentation. Auch der Begriff pünktlich sein, erhielt eine neue Bedeutung. Bezeichnete er vorher „feines Benehmen“ wurde daraus das „Erscheinen zu einer verabredeten Zeit“.
Genaue Uhren öffneten der „Arbeit im Takt“ Tür und Tor. Anfang des 20. Jahrhunderts ging man dazu über, Arbeit zweckmäßig zu planen. An der verbrauchten Zeit wurde Produktivität, Leistung sowie Effizienz gemessen und entschieden, wo umgeschichtet oder gleich wegrationalisiert werden sollte. Zeit ist Geld.
Tausche Zeit gegen . . .
Zeit weist auf eine bestimmte Richtung hin und zwar nach vorn. Sie ist nicht umkehrbar, kann nicht zurückgedreht werden und ist das Einzige, was jeder Mensch im gleichen Umfang zur Verfügung hat. Egal ob Kind oder Greis, Mann oder Frau, dick oder dünn, reich oder arm, unabhängig von Religion oder Herkunft: Du, ich, wir alle erhalten jeden Tag die gleiche Menge Zeit.
Nun gibt es verschiedene Optionen. Wir können Zeit gegen Geld verkaufen, in Wissen und inspirierende Erlebnisse investieren, dem Chef opfern, an den Lieblingsmenschen oder dich selbst verschenken, sie mit Belanglosigkeiten verplempern oder mit Nichtstun füllen. Wie auch immer du entscheidest, einmal benutzt, ist die Zeit verbraucht.
Wer bestimmt, wann ich wo sein soll oder wer auf wen wartet
Zeit ist nicht gleich Zeit, da unterscheiden sich die Geister. Unsere innere biologische Uhr steht oft in Diskrepanz zu der äußeren, willkürlich von Institutionen, Gesellschaft oder Traditionen auferlegten. Wir müssen arbeiten, obwohl wir lieber schlafen würden und sollen schlafen, wo wir gerade zur Hochform auflaufen. Schichtarbeiter spüren das besonders, weil ihr Tag- und Nachtrhythmus völlig durcheinander gewirbelt wird und sich Arbeitszeiten oder die Laufzeiten der Maschinen einen Dreck um persönliche Befindlichkeiten kümmern.
Dann hast du sicher auch schon bei Reisen erlebt, dass Zeit für Menschen in anderen Ländern keine oder eine andere Rolle zu spielen scheint. Ihr Lebenstempo weicht von unserem ab, was dann erst einmal zu Irritationen auf beiden Seiten führt. Die Europäer haben die Uhr, wir haben die Zeit, lautet ein afrikanisches Sprichwort.
Doch so weit brauchen wir gar nicht reisen. Es genügt, wenn zwei Menschen mit unterschiedlichen Zeitverständnis sich verabreden. „Ich komme gleich“ beinhaltet die extreme Zeitspanne von 10 Minuten (die Zeit für den Weg) bis zu 2 Stunden (gleich nachdem ich noch dieses und jenes getan habe) oder denken wir an das „akademische Viertel“.
Jemand warten lassen, dahinter muss sich kein böser Wille verbergen. Das Nichterscheinen zum festgelegten Zeitpunkt ist jedoch seit jeher ein beliebtes Instrument zur Demonstration der Macht. Es unterstreicht die Position des Stärkeren, ist Zeichen seines übergeordneten Status und zermürbt auf Dauer den Wartenden.
Was empfindest du, wenn dich jemand warten lässt. Wie reagierst du auf Unpünktlichkeit oder sogar Nichterscheinen?
Gefangen im Labyrinth der Zeit
Zeit hat etwas Faszinierendes. Seit Jahrhunderten beschäftigt sie uns. Wir versuchen „ihr Herr zu werden“, doch sie läuft uns immer wieder davon. Wir versuchen, sie uns einzuteilen oder genau zu planen, doch das Leben pfuscht immer dazwischen.
Das Zeitempfinden ist sehr subjektiv. Normal laufen die Minuten gemächlich dahin. Manchmal hat man jedoch das Gefühl, dass die Zeit wie im Flug vergeht, weil sie mit großartigen Erlebnissen gespickt ist. Wenn nichts (oder wenig) passiert, du auf etwas oder jemand wartest, kann die Zeit quälend langsam vergehen. Und die Zeit steht still, wenn ein einschneidendes Ereignis das Leben durcheinander wirft oder bei Hiobsbotschaften.
Schaue ich auf mein Leben zurück, stelle ich fest, dass alle Erinnerungen mit einem Zeitschildchen versehen sind. Beglückende Ereignisse haben einheitlich große bunte Schilder. Unterschiedliche Größen und Farben von schwarz über grau bis hin zu lichten zarten Farben hängt an Belastendem oder Traurigem. Dann gibt es einen extra Raum, gut verschlossen, wo Verdrängtes lagert, welches aus der Zeit herausfällt. Dort gibt es keine Zeitschilder. Rückblickend auf das Leben reihen sich ganz verschiedene Zeitqualitäten aneinander.
Lies auch den Artikel „Die Zeit rast schneller im Alter“
Jetzt im Alter, auf der Schwelle zum 60. Lebensjahr beschäftigen mich die verschiedenen Aspekte zur Zeit. Wie geht es dir? Hast du auch manchmal das Gefühl, die Zeit fließt immer schneller, je älter man wird? Vielleicht werde ich aber auch langsamer oder koste jede Stunde intensiver aus, fülle sie mit Tätigkeiten, die mir Freude bereiten oder mich brennend interessieren, lasse Überflüssiges weg.
Ich freue mich, wenn du mir schreibst, ob sich dein Zeitempfinden mit den fortschreitenden Jahren ändert und auch wie du das mit der Pünktlichkeit siehst. Es interessiert mich sehr.
Lass uns zusammen Leben – Lieben – Lachen
Zeit haben oder sie uns nehmen,
um bunte Sachen zu machen
Deine Elvira
Quellen:
Wikipedia beim Abschnitt „Die Götter der Zeit“
Deutsches Uhrenmuseum beim Abschnitt „Mitten in der Zeit“
Ein schöner Beitrag zur Zeit. Ich versuche mal, deine Fragen zu beantworten. Pünktlichkeit: ich bin gerne pünktlich, für mich ist es eine Frage des Respekts Anderen gegenüber. Ich mag nicht warten und lasse deshalb auch niemanden warten.
Vergeht die Zeit schneller wenn man älter wird? Das habe ich bisher nicht geglaubt, kann es aber inzwischen bestätigen. Gestern noch 50, heute schon…? Wird nicht verraten! Wenn man, wie ich, sehr engagiert ist, weiß man nicht wie man das alles schaffen soll, was man sich selbst in die Agenda geschrieben hat. Da ich mich aber auf keinen Fall selbst stressen will, übe ich immer wieder zwischendurch den MÜÜÜSSIGGANG. Ganz bewußtes Nichtstun, gerne in der Natur. Und doch tue ich etwas. Ich staune. Letzten Sonntag saß ich 1 1/2 Stunden auf einem Bahnsteig. Einen Fuss schmerzhaft geprellt, so daß Rumlaufen keine Option war. Bevor die Langeweile auch nur eine Chance hatte, konnte ich den Schalter im Kopf umlegen und betrachtete die Mitwartenden. Es war so spannend, daß die Zeit schnell um war und ich mit einem sehr guten Gefühl weitergefahren bin.. Es war wie Meditation.
Was ich nie nachvollziehen kann, wenn jemand die Zeit totschlagen muß. Wie furchtbar ist das denn? Ich hoffe, mir bleibt noch viel Zeit, meine Zeit zu erforschen.
Danke, liebe Anne für Deine wunderbare Ergänzung über Deinen Umgang mit der Zeit. Den Ausdruck „die Zeit totschlagen“ finde ich ebenso gruselig.
Ganz herzliche Grüße
Elvira