Von allen Seiten dringt es auf mich ein. Du musst deine selbst gebastelten Grenzen überwinden, zu neuen Ufern aufbrechen, die Mauern in deinem Kopf und um dich herum einreißen, deine Komfortzone erweitern, über deinen Tellerrand schauen. Beweg dich! Los!
Grenzen überwinden heißt Sicherheit aufgeben und Freiheit gewinnen
Mauern und Grenzen stehen für Stabilität und Sicherheit. Spontan kommen mir da die Geschichten von Asterix und Obelix in den Sinn. Römer, die gegen das Bollwerk aus Holz rund um ihr kleines gallisches Dorf anrennen und dieses nicht überwinden können. Dicke Palisaden und ein Wundertrunk schützen die Bewohner gegen eine feindliche Außenwelt und schenken ihnen Handlungsfreiheit.
Anderes Szenario: Bilder im Fernsehen zeigen uns Kriegsschauplätze. Grenzen werden nicht mehr respektiert und Mauern halten dem ständigen Beschuss und Bombardement nicht mehr stand. Sie zerbrechen und die Menschen sind schutzlos dem Feind ausgeliefert. Sie verlieren sowohl ihre Sicherheit als auch ihre Freiheit zu selbstständigem Handeln.
Wir kennen sie noch aus eigenem Erleben, die Mauer zwischen DDR und BRD, zwischen Ost- und Westeuropa. Gegen ihren Willen lebten die Menschen hinter dieser Grenze, geschützt vor „dem Klassenfeind und seiner Denke“. Der Bevölkerung wurde ihre Handlungsfreiheit geraubt, doch ihre Gedanken konnte man nicht einsperren. Und wir erinnern uns daran, dass diese unüberwindlich erscheinende innerdeutsche Mauer niedergerissen werden konnte von mutigen Menschen, die nie ihre Hoffnungen, Träume und Visionen aufgegeben hatten.
Wenn Mauern zerbrechen, egal ob selbst gewollt oder durch externe Kräfte herbeigeführt, stehen die Menschen erst einmal mitten im Chaos. Sie verlieren ihre Gewohnheiten und täglichen Routinen, vielleicht ihr Hab und Gut oder Angehörige und Bekannte. Sie verlieren ihre Sicherheiten, Gefahren lauern auf sie, mitunter müssen sie sogar Todesängste ausstehen. Sie müssen sich trauen, unbekannte Herausforderungen anzunehmen, wobei Versagens- oder Zukunftsängste ihre ständigen Begleiter sind bis . . . ? Ja, bis sie sich neu organisiert und eingerichtet haben, freiwillig, hinter anderen, schöneren, besseren Mauern.
Herzensfrage: „Was brauchst du für deine sichere Freiheit?“
Die Wörter Grenzen, Mauern, Sicherheit, Freiheit flutschten mir heute morgen bei meinen morgendlichen Chi gong Übungen durch den Kopf und haben sich an meinem Schädelknochen dicke Beulen geholt, denn alle Türen und Tore nach draußen waren noch zu. Inzwischen ist es zwei Stunden später und durch ein kleines Türchen wanderten alle nach und nach zuerst in meinen Bauchraum, inspizierten dort die Gegend und gelangten schließlich ohne Widerstand in meine Herzgegend. Und dort sitzen sie im Moment und bombardieren mich mit Fragen.
Wie lebt es sich in deiner Haut, hinter deinem Gartenzaun, hinter deinen Hausmauern? Fühlst du dich dort eingesperrt? Was brauchst du, damit du dich sicher fühlst? Und wenn du es hättest, könntest du dann wirklich behaupten, in Sicherheit zu leben?
Egal was ich plane, das Leben funkt immer dazwischen
Nun musst du wissen, dass Sicherheit wichtig für mich ist, gleichzeitig aber auch Freiheit. Blödes Zusammentreffen. Ich bin Jemand, die gern alles regelt, organisiert und plant. Weil ich ja weiß, dass das Leben ständig dazwischenfunkt, gibt es noch einen Plan B. Vor lauter Regeln und Organisieren und Überarbeiten und Perfekt sein wollen, bleibe ich aber oft an Ort und Stelle stehen. Von Spontanität keine Spur. Dann engt mich mein Sicherheitsbedürfnis derart ein, dass ich kaum noch Luft bekomme.
3 Frauen suchen eine neue sichere Heimat
Ich glaube, da lastet das Erbe meiner Vorfahren auf mir. Ich bin in einem Dreifrauenhaushalt aufgewachsen, bestehend aus Oma, Mutter und mir. Dunkel erinnere ich mich daran, dass eine Zeitlang auch noch meine Uroma dazu gehörte, also waren wir ursprünglich vier Frauen. Die Männer waren im Krieg gefallen, in Russland vermisst und bei einem Unfall ums Leben gekommen.
Doch diese Frauen verloren nicht nur ihre Ehemänner und die Väter ihrer Kinder, sie verloren obendrein ihre Heimat. Sie wurden vertrieben. Bereits das Wort beinhaltet, dass sie nicht selbst entscheiden konnten. Dort wo sie sich sicher fühlten, falls man überhaupt beim Durchleben zweier Weltkriege und Wirtschaftskrisen von Sicherheit sprechen kann, wurde eingebrochen.
Heile Welt in übersichtlichen Grenzen
Mühselig schufen sie sich eine neue Heimat, misstrauisch beäugt von den Einwohnern des Ortes. Es brauchte seine Zeit, in die Dorfgemeinschaft aufgenommen zu werden. Erschwerend war bestimmt, dass man der „falschen Religion“ angehörte. Selbstversorgung und Arbeit beim Bauern sowie am Wochenende in einem Cafébetrieb ermöglichten ein Leben „mit allem, was man braucht“ und ein bisschen mehr. In dieser neu geschaffenen Sicherheit wuchs ich behütet und umsorgt auf.
Sieben Jahre war das meine kleine heile Welt, bevor deren Mauern und Grenzen belagert wurden. Und weitere sieben Jahre dauerte es, bis die Mauern endgültig einbrachen. Meine Mutter hatte ihren jahrelangen Kampf gegen den unerbittlichen Feind Krebs verloren und starb als ich 14 Jahre alt war. Ich habe mal gelesen, dass das Leben in Sieben-Jahres-Schritten verläuft. Ob das stimmt?
Neuland betreten heißt Angst, Risiko, Verantwortung und Vertrauen
Nun war ich also von einem auf den anderen Tag gezwungen, Neuland zu betreten. Was sich in einem Satz schreibt, dauerte lang und war mit großen Ängsten verbunden. Ich war gezwungen, Verantwortung für mich zu übernehmen, Risiken einzugehen und selbst fremden Menschen zu vertrauen. Mal fühlte es sich an wie auf der Flucht, mal tappte ich ins Ungewisse vorsichtig Schritt für Schritt voran, mal gönnte ich mir lange Pausen.
Fest steht, wer sein Leben immer nur hinter sicheren Mauern verbringt, entwickelt sich nicht weiter. Es ist auch kaum möglich, denn zu viele Zufälle und Ereignisse, die von außen auf einen eindringen, machen dieses Bestreben zunichte. Im Gegensatz dazu fühlt sich andauernde Freiheit seltsam orientierungs- und heimatlos für mich an. Die goldene Mitte zwischen beiden zu finden, ist sicherlich die Kunst.
Wieder gibt es Streit zwischen der Sicherheit und der Freiheit
Im Moment streiten sich wieder die zwei Seelen in meiner Brust. Die eine heißt Sicherheit, will in ihrem flauschigen Nest sitzen und den Dingen ihren Lauf lassen. Sie möchte keine Veränderung, will nur Ruhe. Basta. Sie möchte sich hübsch in ihrer kleinen Welt einrichten, das tägliche Einerlei genießen, sich in immer wiederkehrenden Routinen aufhalten und vor der unruhigen Welt da draußen die Augen verschließen.
Hier geht es zu meinem Artikel „Das Übertreten der Grenzen ist verboten“
Die andere sehnt sich nach Freiheit und will raus, Neues ausprobieren, tausend Sachen auf einmal machen, die ganze Welt erobern. Bei jedem zaghaften Pochen an der Tür, rennt sie hin und schaut nach, wer Einlass begehrt. Gewagt, sehr gewagt, denn es könnte was Fremdes vor der Mauerpforte stehen und ihre Sicherheit bedrohen.
Und so sitzen beide oft tage- und nächtelang zusammen und versuchen, die andere von den jeweiligen Vorteilen zu überzeugen:
Die Freiheit lockt mit Worten wie „Stell dir vor . . . wie schön wäre es, wenn . . ., welchen Sinn hat dein Leben, was hattest du dir nicht alles erträumt, Wünsche muss man wahr machen, du kannst alles, tu es, wage es, . . .“
Die Sicherheit hält sich zurück, bleibt bedächtig und rät mir: „Lass alles wie es ist, schaffe erst einmal Ordnung, du musst nicht überall dabei sein, achte auf deine Gesundheit, genieße den Komfort, du brauchst auch Zeit für dich, bring zunächst alle begonnenen Projekte zum Abschluss, . . .“ Wenn alles nicht nutzt, holt sie ihre Trumpfkarte aus dem Ärmel. Darauf steht: „Du bist zu alt, um . . .“ Gemein.
Ich will meine Grenzen nicht überwinden und was neben meinem Tellerrand passiert, ist mir schnurzpiepegal
Ja, es stimmt, Frühling liegt in der Luft und Ja, noch immer tönt es von allen Seiten: „Jetzt ist genau die richtige Zeit für einen Neuanfang. Nimm Unmögliches in Angriff. Beginne ein neues Projekt. Verwirkliche deine Träume. Schau über den Tellerrand. Komm raus aus deinen einengenden Grenzen.“
Nein, nein und nochmals nein, ich will nicht. Ich bleibe diesen Frühling hinter meinen Mauern sitzen. Ich bin sozusagen eine Aufbruchs- und Neuanfangsverweigerin. Toller Titel. Gefällt mir.
Bin ich jetzt unnormal, weil ich hinter meinen Mauern bleiben und erst mal bei mir selbst aufräumen will? Weil ich nichts Neues anfangen sondern geduldig die Projekte beenden will, die ich begonnen habe? Und dabei gelassen bleibe, weil ich weiß, dass in diesen Momenten des Nichtstuns und Einerleis, die schönsten Dinge heranreifen: still und leise, in meinem Oberstübchen. So habe ich entschieden, dass ich ganz entspannt hinter meinen Mauern werkeln werde.
Neues braucht erst einmal den Schutz von Mauern, um zu wachsen und zu gedeihen. Und so ist es gut, wenn die Sicherheit gerade die Oberhand über meinen Drang zur Veränderung und Freiheit behält. Und im Notfall gibt es ein Hintertürchen, durch das Jemand hereinkommen oder ich hinausschlüpfen kann. Wie geht es dir mit neuen Projekten?
Lass uns zusammen LEBEN – LIEBEN – LACHEN
auch mal Grenzen ziehen
und dahinter bunte Sachen machen
Deine Elvira
Liebe Elvira,
ich bin ganz neu in Deiner Runde und habe den heutigen Artikel mit großem Interesse gelesen. Ja wer kennt sie nicht, die zwei Seelen in der Brust. Das Leben ist ein ewiges auf und ab. Wenn man denkt, jetzt zeigt die Kurve nach oben, kommt mit Sicherheit eine kleine Kerbe dazwischen. Habe schon einiges davon hinter mich gebracht. Es ist wichtig dabei wieder zu seiner Mitte zu finden, dann kann man auch auf die richtige Botschaft des Herzens vertrauen.
Herzliche Grüße
Edith
Immer wieder die Mitte finden, das ist glaube ich, das Wichtigste.
Ganz liebe Grüße
und noch ein Dankeschön
für die Beantwortung meiner Fragen
Elvira
Hach wie gut ich diese Inhalte verstehen kann.
Nun bin ich, trotz oder gerade weil ich älter bin, schon sehr über meine familien geprägten Grenzen hinaus gewachsen. Das hat aber Jahrzehnte gebraucht, bis alle Kinder aus dem Haus waren und ich mich wirklich frei und unabhängig genug gefühlt habe, um genau dies anzustreben.
Viele Pläne geistern durch meinen Kopf, viel verschiebe ich immer wieder, meist aus Angst vor Überforderung. Trotzdem schwebt immer diese Sorge über meinem Schädel, dass mir ja so viel Zeit nicht mehr bleibt und dass ich bestimmte Dinge noch erlebt haben möchte.
Jeder sollte sich die Freiheit nehmen im eigenen Tempo zu leben und Grenzen zu lassen, wenn es nicht behagt sie zu erweitern. Irgendwann vielleicht…
Ich stelle mir zwischendurch die Frage „Was würde ich anders machen, wenn ich wüsste, es bleiben mir nur noch wenige Tage zum leben“ Oder „Was möchte ich, wenn ich mal betrete, erlebt haben“ Dann kommt die Antwort: “ Ich habe alles getan, was mir möglich war und mir wichtig erschien“
Ist doch alles gut so!
Liebe Grüße
Elke
Wie weise dein Resümee klingt, wie beruhigend, wie gesucht und gefunden: „Ich habe alles getan, was mir möglich war und mir wichtig erschien.“ Danke.
Ganz herzliche Grüße
Elvira
Liebe Elvira,
habe krampfhaft wirkliche Widersprüche in Deinen Betrachtungen gesucht und auch einige gefunden – doch dann noch mal nachgedacht – und siehe da – sie haben sich wieder aufgelöst.
Somit kann ich alles nachvollziehen .
Danke. Es sind gute Betrachtungen
Christian
Dann ist es gut. Bei mir haben sich die Widersprüche auch mit der Entscheidung aufgelöst.
Liebe Grüße
Elvira
Liebe Elvira, diese 2 Seelen ach in meiner Brust, die kenne ich auch.
Einerseits suche und brauche ich die Sicherheit andererseits lockt mich die Freiheit und ich sehne mich nach allem Möglichen.
Dein Plädoyer gefällt mir heute morgen sehr. Mal hinter den Grenzen bleiben und nicht über den Tellerrand schauen. Danke für deine Gedanken vor allem auch Dein Erzählen der Kindheitsgeschichte!!
Herzlich. Petra
Ach, ich freue mich so, wenn es anderen Menschen genauso geht, da fühle ich mich nicht so allein.
Ganz liebe Grüße
Elvira