Documenta 14 – der Spaziergang einer Ahnungslosen

Es ist wieder so weit, die Documenta 14, die weltgrößte Ausstellung für zeitgenössische Kunst hat ihre Pforten geöffnet. Du warst noch nie dort, interessierst dich auch nicht für Kunst. Macht nichts, mir geht es genauso. Obwohl? Diese Ausstellung interessiert mich inzwischen doch und ich verpasse keine mehr, doch Ahnung von Kunst habe ich immer noch nicht.

Kunstausstellung? Ja. Mit mir? Auf keinen Fall

Lange dauerte es, bevor ich mich gezwungenermaßen dazu aufraffen konnte, mal dorthin zu gehen. Gut, bei der ersten Documenta war ich noch nicht geboren und später als Kind und Jugendliche richtete sich das Augenmerk von meiner Mutter und Oma auf wesentlichere Dinge als solchen Firlefanz. Es sollte noch eine Reihe von Jahren vergehen und brauchte eine Menge Anstupser bevor meine Berührungsängste und Einstellungen à la „Was soll ich da? So ein Blödsinn! Habe keine Ahnung! Ist nichts für mich! Mit Kunst, vor allem zeitgenössischer, kann ich nichts anfangen!“ vergingen.

Auch die 9. Documenta wird ohne mich stattfinden

Documenta, das war für mich ein Haufen seltsamer Menschen, die seltsame Dinge, Gemälde, Gegenstände als Kunstwerke ausstellten und andere seltsame Menschen gingen dahin und sahen sich das an. Documenta, da ging mein älterer Künstlerfreund hin. Der war dort sicher am richtigen Ort. Dann kam der Tag, an dem eine Einladung im Briefkasten lag, in der zu einem Rundgang mit anschließendem Essen und Trinken geladen wurde. Na gut, wir (mein inzwischen verstorbener Mann und ich) nahmen daran teil, schließlich waren nette Freunde von uns dabei. Für ein geselliges Beisammensein mit Verköstigung ließ ich vorher auch „moderne Kunst“ über mich ergehen.

Ich krame in meinen Erinnerungen

„Was sehen sie?“ fragte unser Kunstführer. „Äh, nichts. Na ja, eine Fläche mit hellblauer Farbe“, stammelte ich. Während ich darüber nachdachte, dass meine Kinder sowas auch malen und vielleicht verkannte Künstler sind, überschwemmte mich der junge Mann mit einer wahren Interpretationsflut. Puh, ich starrte auf das Gemälde, wollte es zwingen, sein verstecktes Geheimnis preiszugeben. Nichts. Nur hellblaue Fläche. Sonst nichts. Ich war fassungslos und drei Stunden Kunstgenuss standen mir noch bevor.

Woanders lagen ein paar Kisten übereinander, dazwischen irgendwas, das wie Abfall aussah. „Die hätten ja mal ihren Müll beseitigen können“, dachte ich und erfuhr, dass ein prominenter Künstler mit dieser Installation auf Missstände in der Gesellschaft hinweisen will. Häh? Ich fühlte mich veräppelt.

Ein Raum, vollgestopft mit Fotos, mal groß, mal klein, fast immer düster und beklemmend, auf jeden Fall alle verschwommen. Da hätte der Fotograf doch zumindest mal die Schärfe richtig einstellen können und die Wahl seiner Motive war an Eintönigkeit kaum mehr zu überbieten. Langweilig signalisierte mir mein Gehirn und die dokumentarischen Videos ließen meinen Energielevel ins Minus trudeln.

An einer Wand hingen unzählige Bilder, fein säuberlich aufgereiht. Der stets gleiche Holzrahmen umschloss Zeichnungen aus feinsten schwarzen Linien. Welch eine Fleißarbeit, welch eine Geduld – ich fixierte diese Wand und war beeindruckt. Ihre Wirkung war fast meditativ und vielleicht war das der Augenblick, wo ein kleiner Funke auf mich übersprang.

Später folgten großformatige Malereien. Bereits die Wahl der Farbe und deren dicker Auftrag wie mit einem Spachtel ausgeführt, vermittelten die Botschaft von Gewalt und Terror. Ich ging auf Entdeckungsreise der einzelnen Details, stand sprachlos davor und begriff, dass Kunst eine Botschaft enthält, Hinweise gibt, aufrütteln und verstören will. Hatte ich bisher diese Ausstellung nur mit Augen und gleichgültigem Verstand betrachtet, kamen jetzt Körper und Herz dazu. Aus dem winzigen Funken war in drei Stunden ein Feuer geworden, welches durch zwei weitere Ganztagesbesuche zusammen mit meinem „Künstlerfreund“ genährt wurde.

Die Documenta Nr. 9 im Jahr 1997 weckte mein Interesse. Seitdem bin ich alle 5 Jahre dort zu finden. Ich gebe zu, nach wie vor habe ich keine Ahnung von diesem Thema und die Kunstsprache ist mir mehr als suspekt, da ich nicht verstehe, was mir Redakteure, Kritiker oder Experten in ihren Berichten sagen wollen. Doch ich finde, darum geht es nicht. Es ist mehr das subjektives Empfinden. Welche Saite in mir lässt ein Kunstwerk erklingen? Wo berührt es mich? Was sagt es mir? Wo bekomme ich Gänsehaut? Welches zieht mich in seinen Bann und welches stößt mich ab? Woran muss ich denken? Welche Assoziationen drängen sich mir auf, wenn ich meine Lebenserfahrungen mit heranziehe? Worüber schüttele ich verständnislos den Kopf und was lässt mich völlig kalt?

Documenta 14 und ich bin so ahnungslos wie zuvor

Spielerisch ist meine Annäherung an die Kunst. Es ist Sonntagnachmittag, die Sonne scheint vom blauen Himmel, ein Gefühl von Leichtigkeit und Freude kommt auf. Genau der richtige Zeitpunkt, um sich die Außenkunstwerke in der Karlsaue anzusehen, die sich wie ein grünes Band durch Kassel zieht.

Wasserspiegelungen

Ich schlendere an einem Seitenkanal entlang, als ich Frösche quaken höre. Ein paar glänzende Weihnachtskugeln schwimmen auf dem Wasser, darüber wölbt sich eine weiße Brücke und ein Schild weist mich auf das Kunstwerk von Benjamin Patterson hin, welches ich gerade höre. Es soll wohl eine Mischung aus echten Gequake und menschlichen Imitatoren sein. Das Gegenstück befindet sich im Nationalgarten in Athen, so steht es im Daybook der Documenta 14. Das ist nett, doch meine quakenden Frösche im Gartenteich finde ich amüsanter und ausdrucksstärker.

Sind hier echte Frösche oder ist es Fake?

Ich bin bereits eine Weile unterwegs, am Kanal entlang geschlendert, vorbei am Teich mit Blick auf die Insel Siebenbergen, habe den würzigen Duft der Kräuter- und Blumenwiese eingeatmet, als die Begegnungsstätte der Ciudad Abierta (Offene Stadt) erscheint.

Blick über den großen Teich auf das Tempelchen der Insel Siebenbergen

Eine Gruppe von Studierenden, Künstlern, Denkern u.a. aus dem Bereich Architektur und Design der Uni Valparaiso/Chile, begann das Experiment, Architektur aus dem Blickwinkel von Vergänglichkeit zu betrachten. So sitzen jetzt hier viele Menschen unter luftig leichten Sonnensegeln auf improvisierten Bänken oder Plattformen, ruhen aus und unterhalten sich, während die Kinder auf den Balken herumturnen. Selbst der nahegelegene Spielplatz kann sie nicht von ihrem begeisterten Tun weglocken. Mir gefällt’s prima.

Jubel, Trubel, Heiterkeit herrscht auch ein Stück weiter, wo Kinder auf einem supertollen Klettergerüst herumwuseln. Es sieht aus wie das Holzkonstrukt aus einem Fachwerkhaus, wo die Wände dazwischen fehlen. Es könnte jedoch auch ein Übergang sein, vielleicht als Brücke genutzt werden, um zwei Ufer zu verbinden. Die Kinder nutzen das Bauwerk zum Turnen. Sie springen von Balken zu Balken von einer Seite auf die andere und wieder zurück. Auf dem Schild steht „Trassen“ von Olaf Holzapfel, geb. 1967 in Dresden und beim Lesen kommen mir Grenzen, Trennendes, Abgründe in den Sinn. Ich finde es gelungen, und es macht Spaß den Kindern zuzusehen.

Kunst oder supertolles Klettergerüst

Mehr durch Zufall entdecke ich das Projekt von Lois Weinberger aus Österreich, weil auf einer Rasenfläche Menschen vor einem Schild neben einem rotweißen Absperrband stehen, die Köpfe schütteln und mehr oder weniger laut ihr Unverständnis und ihren Unmut kundtun. Was soll das? Einen Graben buddeln, dessen Erde auf einen Haufen schütten und das Ganze sich selbst zu überlassen. Klar, mit der Zeit werden hier alle möglichen Samen angeweht, die keimen und ein winziges Stück Wildnis entstehen lassen. Aber . . . Nun ja, möglich, dass das Unverständnis dazu führt darüber nachzudenken, ob klinisch reine Landschaften sinnvoll sind oder der Frage nachzugehen, warum es immer weniger Insekten, Schmetterlinge und Vögel gibt.

Kein Bild vom Kunstwerk, denn da gibt es noch nichts zu sehen. Dafür ein Tagpfauenauge in meinem Garten

Von weitem schon sehe ich das orangefarbene Gebilde vor der hellgelben Fassade der Orangerie stehen. Bald lassen sich große Zahnräder aus Holz erkennen, die auf einer Plattform angebracht sind, welche wiederum auf Säulen steht. Imposant sieht es aus. Anscheinend eine Mühle. Doch was mahlt sie? Früher haben sicher Esel das Drehwerk in Bewegung gesetzt. Hier machen es die Kinder. Ein Spiel. Sie stehen Schlange, um dranzukommen. Es scheint schwierig zu sein, kräftezehrend, doch sie sind voller Begeisterung dabei. Der erste Eindruck.

Blick auf die prächtige Orangerie
„The Mill of Blood“ vor der Orangerie

Der Zweite: Es ist der Nachbau einer Silbermühle aus Bolivien des Künstlers Antonio Vega Macotela. Er nennt sie „Blutmühle“, weil sie Menschenleben forderte, um Münzen zu prägen und den Reichtum der spanischen Eroberer zu mehren. Gänsehaut, obwohl es draußen warm ist.

„The Mill of Blood“
Holzzahnräder und Menschenkraft treiben die Silbermühle an

Nach einer Stärkung auf der Terrasse der Orangerie wandele ich zum Theatervorplatz. Dicht umlagert sind die 20 aufeinandergestapelten Kanalröhren aus Ton des Irakers Hiwi K. Mein erster Gedanke: Werden wir in Zukunft in den Städten so leben müssen? Wohnraum ist knapp und für die meisten Menschen unbezahlbar. Jede Röhre ist anders eingerichtet, dort ein Bad, Bücher, ein Schlafzimmer, Blumenkästen vor dem Eingang. Utopie? Unvorstellbar? Mitnichten. Flüchtlinge in Griechenland lebten in solchen Abwasserrohren. Verstörend!

Wohnformen der Zukunft?
Flüchtlingswohnröhren
Wohnen auf kleinstem Raum

Gegenüber auf dem Friedrichsplatz, direkt vor dem Fredericianum steht das wohl imposanteste Monument der Documenta 14 – die Nachbildung des Parthenon, errichtet aus verbotenen Büchern von der Argentinierin Martha Minujin. Der Originaltempel steht auf der Akropolis in Athen und war der Stadtgöttin Athena geweiht. Es ist kaum zu glauben, welche Bücher dort eingeschweißt in Kunststoff verbaut wurden: Alice im Wunderland, Harry Potter, Der kleine Prinz, Kinderbücher von Erich Kästner, aber auch Hesse, Tucholsky, Thomas Mann, die Bibel und, und, und. Die Eisengestelle tragen eine „schwere Last“. Dagegen wirkt der Bau federleicht, durchscheinend, abgehoben, wie nicht von dieser Welt und im Gegenlicht scheinen die Bücher in der Luft schwebende Mosaikteilchen zu sein. Vor so viel überirdischer Schönheit bleibe ich andächtig stehen und staune.

Athen lässt grüßen – Der Parthenon der verbotenen Bücher
Schwebende Mosaikteilchen im Abendlicht, die verbotenen Bücher

Die Besonderheit ist, dass neben Kassel Athen als zweiter gleichberechtigter Ausstellungsort dazukam. Dort fand die Documenta 14 vom 8. April bis 16. Juli statt. Petra Schuseil war dort und hat auf ihrem Blog darüber berichtet.

Der Original Parthenon auf der Akropolis in Athen
2013 stand ich dort mit Thomas: Der Parthenon in Athen, eine ständige Baustelle

Vielleicht konnte ich einen Funken bei dir entzünden und dich packt die Lust, dir die verrückte, seltsame, aufrüttelnde, kontroverse, großartige Ausstellung selbst anzusehen. Dann mach dich auf und wer weiß, vielleicht begegnet dir Brad Pitt.

Lass uns Leben – Lieben – Lachen
und zusammen bunte Sachen machen

Deine Elvira

4 Kommentare, sei der nächste!

  1. Liebe Elvira, Du warst also schon da in Kassel. Sehr interessant was Du alles gesehen und entdeckt hast. Und es geht mir wie Dir, dass ich mich nicht wirklich in der Kunst auskenne, aber es gefällt mir zu schauen und mich berühren zu lassen oder eben nicht.

    Ich will im September noch nach Kassel. Und schön, dass Du meinen Artikel über Athen hier bei Dir verlinkt hast. DANKE! Ich freue mich auf die Entdeckungen in Kassel und werde vorher nochmal in Deinen Artikel schauen.

    Ich grüß Dich herzlich.

    1. Liebe Petra,

      es gibt wirklich viele Entdeckungen in Kassel und ich freue mich, dass dich Kunst ebenso berührt wie das bei mir ist. Vielleicht können wir ein bisschen Zeit gemeinsam verbringen. Wenn du magst, lass vorher was hören.

      Ganz liebe Grüße
      Elvira
      die zur Zeit ganz nah dran ist – an der Kunst

  2. Liebe Elvira,

    ich komme zwar sozusagen von der „anderen Seite“, Kunst war für mich immer wichtig, hab auch mal in einer großartigen Galerie für Moderne Kunst gearbeitet…. hatte einfach nie Probleme damit, meine ganz eigenen Zwiegespräche mit Kunst zu halten. Sicher ein Geschenk.

    Aber weißt du, was ich immer, immer zu allen gesagt habe, die mich gebeten haben: „Erklär mir das doch mal“? Das war schon fast ein Reflex… : „Hör auf deine eigene Stimme… Was siehst du, was fühlst du? DIE eine Erklärung gibt es nie…“
    Genau das tust du. Und: ja, manchmal gehört da fast schon ein wenig Mut zu (was ich regelrecht skandalös finde…. Ich würde das Ver-Bildung nennen… Aber das ist ein anderes Thema…)
    Kurz: Du machst einfach alles richtig. Finde ich. Und es macht Spaß, dir dabei zuzuhören/-sehen, zu lesen…. Danke dafür!

    Ganz herzlichen Gruß
    von Maria

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