Berlin Oberbaumbrücke

Versöhnung fängt bei mir an

Erinnerst du dich? Mein Motto für das Jahr 2015 lautete Versöhnung. Puuh, ein schwerwiegender Begriff, der Schmerz, Streit, Unfrieden, Zerrissenheit, Gespaltensein beinhaltet und dem etwas Trennendes vorausgeht.

Versöhnung – mein Jahresmotto 2015 hat mich fest im Griff

Versöhnen, mit wem oder was soll ich mich denn versöhnen, so habe ich mich zu Beginn des Jahres gefragt. Ich habe mit diesem Jahresthema gezankt, gehadert, es lange weggeschoben. Doch es tauchte ständig wieder auf, hat nicht locker gelassen, hat mich geschüttelt, wurde riesengroß. Ich habe weggesehen, meine Augen fest verschlossen, verdrängt. Doch der Begriff hatte mich fest „im Griff“.

Manchmal hat er sich versteckt und mich im Glauben gelassen, er wäre weg und ich könnte weitermachen wie bisher. Denkste, denn unerwartet schoss er hinter einer Ecke hervor, hat mich erschreckt und aus meiner trügerischen Ruhe gerissen.

Dann wieder ist er wie ein Geist in mich gefahren, hat das in meinem Inneren so wohl geordnete Leben wie ein Berserker durcheinander gewirbelt. Staub flog auf, sprühte Funken im Sonnenlicht und erinnerte mich daran, dass es noch eine Aufgabe zu bearbeiten gibt. Sich drücken gilt nicht. „Hol das Staubtuch und beginne zu wischen, mach sauber, fang endlich an“, lautete die Aufforderung.

Unbemerkt webte die Versöhnung ein anderes Mal spinnenzarte Fäden um mich herum. So fein sie waren, hielten sie mich doch gefangen, engten mich ein, lähmten meine Gedanken, Gefühle, Handlungen.

Versöhnung? Mit wem oder was?

Wütend zankte ich mit der Versöhnung: „Es gibt Niemand, mit dem ich mich versöhnen sollte. Das ist längst erledigt. Aller Zwiespalt beseitigt, einen hohen Preis dafür gezahlt. Alles klar, bereinigt, paletti. Also, was willst du noch hier? Mach, dass du fort kommst und lass mich endlich in Ruhe.“

Und die Versöhnung antwortete: „Doch, eine Person gibt es noch, mit der du im Zwiespalt lebst, mit der du haderst und zankst. Sie bringt dich nachts um deinen Schlaf. Sie wirft dein Leben in Abständen durcheinander. Sie stellt Fragen nach dem Warum. Dort türmen sie sich auf zu einem riesigen Berg, weil du die Antworten schuldig bleibst. Sie hält dich gefangen in deinem Gedankenlabyrinth. Diese eine Person bist DU.“

Fragen über Fragen und wo sind die Antworten?

Diese bittere Erkenntnis traf mich wie ein Schlag in die Magengrube. Ich fühlte mich, als wäre ich den Strudeln eines reißenden Flusses gerade noch entkommen. Nun lag ich von ihm ausgespuckt am Ufer und an die Seite geschobene Fragen krochen heran.

Wie ist deine Lebensbilanz?
Ist alles so gelaufen wie du wolltest?
Was ist ganz anders gekommen als geplant?
Wie gehst du damit um?
Hast du alle Enttäuschungen verarbeitet, alle Verletzungen verbunden, damit du heil werden kannst?
Liegst du mit deinem Anspruch an dir selbst und dessen Verwirklichung im Dauerstreit?
Warum strebst du ständig nach Perfektion?
Warum glaubst du, du bist nicht gut genug?
Kannst du dich selbst bejahen oder schielst du ständig zu Anderen hinüber voller Neid auf deren Aussehen, Energie, Position, Selbstbewusstsein, Intelligenz, Gewandtheit, Erfolg?
Warum hast du den Eindruck, dass nur du ständig über Steine stolperst?

Und so rappele ich mich auf, sitze hier am Ufer der Realität und schaue schweren Herzens nach drüben auf die andere Flussseite, ins Land meiner hochgestochenen Wünsche und Bedürfnisse. Mir ist klar, ohne Antworten auf diese Fragen komme ich nicht auf die andere Seite, werde ich nicht ganz.

Versöhnung heißt Ja sagen zu sich selbst

Versöhnung heißt den Fluss zu überwinden, den Zwiespalt in unserem Inneren aufzuheben, die Wirklichkeit anzuerkennen, Frieden mit unseren Schwächen und Fehlern zu schließen und sich so anzunehmen wie wir sind. Ja zu sagen zu unserer Lebensgeschichte, zu den Konflikten, zu den Herausforderungen, zu der Last, die der Rücken zu tragen hat.

Versöhnung fängt bei mir an. Wie so oft im Leben muss ich erst einmal im Reinen mit mir selbst sein. Das ist kein Zucker schlecken sondern anstrengende Arbeit. Doch sie lohnt sich.

Eine Zeit lang habe ich Morgenseiten geschrieben. Wie das geht? Ganz einfach. Etwas früher aufstehen und gleich danach 3 Blätter voll schreiben. Schreib, was dir in den Sinn kommt, egal was, nur schreib. Ohne Nachdenken, ohne Bewertung, Tag für Tag. Das kann Banales und Alltägliches sein, was dich Aktuell beschäftigt oder dich aus der Vergangenheit belastet, Leichtes und Schweres, Fragen und Antworten. Egal was, nur schreib. Ich habe es in der Mitte des Jahres getan, als mein Gedankenkarussell nicht mehr zu stoppen war. Die Folge waren extreme Schlafstörungen. Als Ruhe eingekehrt war, habe ich aufgehört. Vielleicht fange ich wieder an, weil mir jetzt morgens was fehlt. Und? Ich habe meine Eintragungen bisher nicht gelesen.

Die Antwort auf Trauer, Wut und die ewige Frage nach dem Warum beherbergt mein „Wasser-Tagebuch“. Ich nenne es so, denn alles was ich da hinein schreibe, reinigt meine Seele. Es ist so, als wenn ich alles Belastende in den Fluss werfe und dieser es davonträgt. Manchmal schreibe ich einen schönen Spruch hinein, der mich berührt. Manchmal etwas, für das ich dankbar bin, denn es richtet meinen Fokus von meiner Angst und Kummer auf die gelungenen schönen Seiten des Lebens. Manchmal reicht es aus, darin zu lesen.

Beschäftigt mich ein Zwiespalt und finde ich keine Lösung, dann hilft Gehen. Die Bewegung vertreibt die Starre, das Festgefahrene. Schritt für Schritt bringt mich die Natur in mein inneres Gleichgewicht. Stille und Ruhe tun ihr Übriges, besänftigen meinen Aufruhr und ich kann wieder eins werden mit mir, mit meinen Gefühlen und Bedürfnissen.

Eine Brücke bauen und den Zwiespalt überwinden

Versöhnung mit mir selbst beseitigt meinen inneren Zwiespalt, bringt meine Wünsche und Bedürfnisse in Einklang mit meinen Gefühlen und klärt meinen Standpunkt. Nun habe ich die Kraft, eine Brücke über den Fluss zu bauen, meinen Horizont zu erweitern, neue Pläne in Angriff zu nehmen, auf andere Menschen zuzugehen.

Versöhnt mit dir selbst schenkst du dir einen festen selbstbewussten Stand, von dem aus du kommunizierst und agierst. Du kannst unterschiedliche Meinungen und Auffassungen tolerieren. Du strahlst Zufriedenheit, Harmonie, Gelassenheit und Glück aus. Dein Inneres leuchtet und das sieht man dir auch von Außen an.

Ehrlich miteinander sein

Mit dir versöhnt zu sein bedeutet auf keinen Fall, dass du im Streben nach Harmonie, Ärger hinunterschlucken, Dinge unter den Teppich kehren und auf dir herumtrampeln lassen sollst. Begegne anderen Menschen auf der Brücke, rede nicht um den heißen Brei herum sondern suche bei Konfliktsituationen im Gespräch eine Annäherung und Lösung. Es gibt immer eine Möglichkeit der Verständigung.

Die Brücke ist gebaut

Mein Jahr der Versöhnung neigt sich dem Ende entgegen. Es hatte mit Verdrängen begonnen, ging über in das Ansehen und Annehmen gefolgt von einem Gefühlschaos mit Tränen, Schmerz und Verwirrung. Nun haben sich die Wogen geglättet. Ich habe mich aufgerappelt, stehe erwartungsvoll auf der Brücke und schaue, wer und was auf mich zukommt. Auf jeden Fall ein neues Motto für 2016.

Und du? Hast du auch ein Jahresthema, dass dich gefangen hält, dass dich umtreibt, dir den Schlaf raubt?

Lass uns zusammen LEBEN – LIEBEN – LACHEN
in unserem Inneren Großputz und viele
verrückte bunte Sachen machen

Deine Elvira

6 Kommentare, sei der nächste!

  1. Hallo Elvira,

    ich folge gerade den 50+-Award-Blogs, weil ich mich so freue, dass ich nicht der einzige Oldie zwischen all dem jungen Gemüse bin 🙂

    Was für ein schöner Beitrag über’s Versöhnen. Ich hab das auch hart lernen müssen, dass ich das in erster Linie für den eigenen Seelenfrieden mache und es bedeutet für mich nicht zwingend, dass ich die Beziehung zu dem anderen Menschen (der mir absichtlich oder unabsichtlich wehgetan hat) fortsetze.

    Mein Motto 2013/14 war Achtsamkeit. 2015 ist es Loslassen. Ich befreie mich von viel Gerümpel und Zeug, von allem, was überflüssig ist und ich bin trotzdem sehr weit weg vom Minimalismus.

    Schöne Grüße

    Gitta

    1. Hallo Gitta,

      dann liegst du mit deinem Motto für 2015 doch genau richtig. Du darfst auch Menschen loslassen zusätzlich zum Gerümpel und Zeug.

      Die Fotos auf deinem Blog sind wunderschön und machen Lust gleich loszufahren, egal wie das Wetter ist. Da freue ich mich auf mehr und habe dich zu meiner „Oldie-Liste“ hinzugefügt.

      Ganz liebe Grüße
      Elvira

  2. Liebe Elvira,
    das ist so großartig, dass ich erst mal ganz still sitzen muss. Schlucken, atmen, denken…Ich musses gleich noch einmal lesen. Im ersten Anlauf geht mir das Bild des Flusses, auf dessen andres Ufer man (melancholisch) guckt, nicht aus dem Kopf. An so einem Flussufer wäre ich jetzt auch gern. Nein: Wir alle sollten so einen Fluss immer mit uns tragen. In der Tasche. Und auspacken, wenn man ihn braucht. Dann ein Weilchen still davor sitzen.
    Versöhnung! Mit sich selbst! Das ist wirklich groß. Und großartig, dass du das mit uns teilst. Und: Ja, schrecklich auch. Anstrengend, lohnend – und (leider) vermutlich nie abgeschlossen… womit ich schon wieder an meinem Flussufer sitze. Wo das Wasser ewig weiter fließt. Komm ich vermutlich nicht so schnell von weg…
    Sorry, sonderlich konstruktiv war das nicht. Was ich eigentlich sagen will: Ich bin berührt.
    Herzlichen Dank
    Maria

    1. Liebe Maria,

      Gefühle und schauen, atmen, ganz still sitzen brauchen/sollen niemals konstruktiv sein. Berührt sein ist genau richtig. Danke für deine wundervolle Ergänzung.

      Ganz herzliche Grüße von der
      Brücke der Begegnung

      Elvira

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